Einzigartiges Gedenkprojekt Leeraner Sinti wollen auf Verfolgung aufmerksam machen

Deike Terhorst
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Von Deike Terhorst
| 02.01.2024 14:05 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Ingo Lindemann, Dr. Hans Hesse und Stefan Wagner (von links) mit einem Abbild von Mariechen Franz. Foto: Terhorst
Ingo Lindemann, Dr. Hans Hesse und Stefan Wagner (von links) mit einem Abbild von Mariechen Franz. Foto: Terhorst
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Durch „Erinnerungsmittler“ erzählt der 1. Sinti-Verein Ostfriesland die Geschichte von NS-Opfern aus Nordwestdeutschland. Unterstützt wird er von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.

Leer - Am 16. Dezember 1942 leitete der sogenannte „Auschwitz-Erlass“ die Deportation und Ermordung von Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzten Europa ein. Anlässlich dieses Datums stellte der 1. Sinti-Verein Ostfriesland Ende Dezember in seiner Geschäftsstelle in der Leeraner Friesenstraße ein zweijähriges Gedenkprojekt vor.

Das Vorhaben wird von der staatlichen Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) mit 77.000 Euro unterstützt. Sie fördert Projekte, die „Erfahrungen der NS-Opfer für die historisch-politische Bildung dokumentieren, weitergeben und verfügbar machen und die zur Weiterentwicklung der Erinnerungskulturen in der Migrationsgesellschaft Deutschland beitragen“, heißt es auf der Internetseite.

„Wir wollen Menschen in die Lage versetzen, ihre Geschichte zu erzählen“

Genau so ein Projekt steht beim 1. Sinti-Verein Ostfriesland nun in den Startlöchern. Die Leidensgeschichte der Sinti soll sowohl für Nachfahren als auch für Externe greifbar gemacht werden. Dafür erzählen sogenannte „Erinnerungsmittler“ die Geschichten ihrer Familienangehörigen und halten somit die Erinnerung an sie lebendig. Denn nur fünf Prozent der deutschen Sinti hätten den Nationalsozialismus überlebt, berichtet Stefan Wagner, Angestellter beim Verein: „Jeder deutsche Sinti weiß, dass er ein direkter Nachkomme eines Holocaustüberlebenden ist.“

Als Vorbereitung auf die Vorträge nehmen die Erinnerungsmittler an einem Rhetorikkurs teil, bei dem sie unter anderem lernen, selbstbewusst vor Publikum zu sprechen. „Wir wollen Menschen in die Lage versetzen, ihre Geschichte zu erzählen“, erklärt Historiker Dr. Hans Hesse. Er forscht seit 30 Jahren zur NS-Verfolgung von Sinti und Roma und unterstützt den 1. Sinti Verein Ostfriesland auf wissenschaftlicher Ebene. Das Vorhaben solle vor allem das Selbstbewusstsein von Sintis stärken. „Das macht das Alleinstellungsmerkmal des Projekts aus. Ich als Historiker spiele dabei nur die zweite Geige“, sagt Hesse lächelnd.

Leer als Projektbasis

Seine Aufgabe sei es vielmehr, die historische Familienforschung zu betreiben, auf deren Grundlage später die einzelnen Biografien geschrieben werden. Dabei werde der ganze nordwestdeutsche Raum abgedeckt. Leer sei dafür eine gute Basis: „Die schiere Größe der Community hier ist deutlich größer als beispielsweise in Bremen.“ Die fertigen Biografien würden am Ende von den Erinnerungsmittlern auf öffentlichen Veranstaltungen, in der Volkshochschule, in ehemaligen Konzentrationslagern und auf politischen Schulungen für Polizeibeamte vorgetragen. „Das Interesse ist groß, wenn jemand direkt aus der Community erzählt“, erklärt der Historiker.

Teil des Projekts sei unter anderem die bereits gut erforschte Familiengeschichte von Mariechen Franz, die 1927 in Riepe geboren wurde und 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück starb. Aufgrund ihrer „nichtarischen“ Herkunft wurde sie aus ihrer Stellung als Erzieherin entlassen, später zwangssterilisiert, deportiert und getötet.

Von der Nachkriegsgesellschaft verdrängt

Das Vorhaben des 1. Sinti-Vereins Ostfriesland konzentriert sich jedoch nicht nur auf die NS-Zeit. Nach Kriegsende stießen die Überlebenden erneut auf eine Mauer aus Misstrauen und Ablehnung. Die Zugänge zu politischer Teilhabe, Bildung und Berufsleben öffneten sich nur zäh. Bis in die 80er-Jahre hinein lebten Sinti-Familien vielerorts in notdürftigen Behausungen außerhalb der Stadt. In Leer bewohnten sie zunächst den späteren Standort der Olympia-Werke, später siedelten sie an den Königskamp um.

Im September dieses Jahres wurde am Königskamp ein Gedenkstein für die Ansiedlung der Sinti in Leer eingeweiht. Foto: Wolters/Archiv
Im September dieses Jahres wurde am Königskamp ein Gedenkstein für die Ansiedlung der Sinti in Leer eingeweiht. Foto: Wolters/Archiv

Sinti blieben also auch nach 1945 Fremde im eigenen Land. „Diese Verfolgungserfahrungen übertragen sich über Generationen bis heute“, erklärt Dr. Hans Hesse. Die Projektforschung zu diesem Thema sei für Oldenburg bereits abgeschlossen, im Februar werde Ostfriesland fertig. Im Anschluss würden die Biografien geschrieben. Danach stünden die Schulungen an und ab Herbst können die ersten Vorträge veranstaltet werden.

Antiziganismus gesellschaftlich tief verwurzelt

Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung leben heute circa 60.000 Sinti in Deutschland. Zusammen mit den Roma gehören sie zu den vier anerkannten Minderheiten. In Niedersachsen ist Leer eine der Kommunen mit dem größten Sinti-Anteil bezogen auf die Einwohnerzahl. Das ändert jedoch nichts daran, dass Sintis immer noch auf Ablehnung stoßen. „Es gab Elternbriefe, die forderten, dass unsere Kinder von den Schulen verschwinden sollen“, berichtet Ingo Lindemann, 2. Vorsitzender des 1. Sinti-Vereins Ostfriesland. Er selbst werde oft „Zigeunerfreund“ genannt.

„Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer zweiten Verfolgung“, erklärt Dr. Hans Hesse. Gerade deshalb sei es wichtig, weiterhin für die Anerkennung der Sinti zu kämpfen. Diese Meinung teilt auch Lindemann: „Dieses Projekt soll ein Anlass sein, miteinander ins Gespräch zu kommen.“

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