Neudorf feiert 200-jähriges Ortsjubiläum Das harte Leben der ersten Siedler auf dem „Reisigberg“

Johann Eilers
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Von Johann Eilers
| 23.08.2023 14:03 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
Vor der Besiedelung war Neudorf eine Moorlandschaft. Nur wenig ist davon übrig geblieben. Es ist heute ein Naturschutzgebiet, auf das Otto und Grete Broers hier blicken. Foto: Ortgies
Vor der Besiedelung war Neudorf eine Moorlandschaft. Nur wenig ist davon übrig geblieben. Es ist heute ein Naturschutzgebiet, auf das Otto und Grete Broers hier blicken. Foto: Ortgies
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Vor 200 Jahren zogen die ersten Kolonisten nach Neudorf. Ortshistoriker Johann Eilers fasst die Geschichte der Ortschaft am Nordgeorgsfehnkanal zusammen.

Neudorf - Die ersten Siedler in Neudorf mussten ihre Kolonate erst noch bewohnbar machen, heute ist der Ortsteil von Uplengen eine Gemeinschaft mit einem aktiven Vereinsleben. Aus Anlass des 200-jährigen Bestehens, das am kommenden Wochenende gefeiert werden soll, fasst der Lokalhistoriker Johann Eilers die Geschichte von Neudorf zusammen.

Nachdem im Jahre 1822 die Moorgebiete südöstlich von Remels vermessen worden waren und die Orte Firrel, Poghausen und Großoldendorf Flächen abgetreten hatten, stand der Gründung einer neuen Kolonie mit der damals zerstreuten Besiedlung auf dem damaligen Riesbarg nichts mehr im Wege. Ries ist ein niederdeutsches Wort und bedeutet Reis aber auch Reisig. Auf einer leichten Anhöhe wurde Birkenreisig für die Herstellung von Strauchbesen geschnitten – daher der Name.

30 Kolonate waren die Keimzelle

Zur Besiedlung wurden damals 30 Kolonate vergeben und den künftigen Siedlern zur Auflage gemacht, dass sie in gerader Linie am Weg entlang bauen mussten, Wege erstellen und ihre Grundstücke mit einem Graben oder einem Wall einzufrieden hatten. Für die neu erstandene Kommune setzte die Königliche Kammer in Hannover den Ortsnamen Neudorf fest.

Die Dorfgemeinschaft ist stolz auf ihr Dorfgemeinschaftshaus. Foto: Ortgies
Die Dorfgemeinschaft ist stolz auf ihr Dorfgemeinschaftshaus. Foto: Ortgies

Die neu errichteten Häuser, die eher Hütten waren, hatte man aus Heidesoden und mit Lehm gewalteten Wänden aufgebaut. Mit nachbarlicher Unterstützung und der Hilfe von Verwandten waren sie innerhalb von einer Woche einzugsbereit. Die Fußböden der Wohnräume wurden mit Backsteinen ausgelegt. Um sie reinlich zu halten, streute man weißen Sand, der tief unter dem Moor ausgegraben wurde, aus. So konnte man den mit Klumpen hereingetragenen Schmutz zusammenfegen.

Moorhühner kamen auf den Teller

Das Leben der Siedler war armselig. Sie ernährten sich vom angebauten Buchweizen, von der wenigen Milch eines Schafes und vom Honig aus eigenen Bienenstöcken. War der Ertrag reichlich ausgefallen, wurde dieser auch auf dem Honigmarkt in Hopels verkauft. Ihre karge Kost besserten die Kolonisten bisweilen mit Moorhühnern (Birkhühnern) auf, die in Schlingen aus Pferdehaaren gefangen wurden.

Als Trinkwasser gab es nur braunes Moorwasser. Um es zum Kochen von Speisen und für den unverzichtbaren Tee rein zu machen, wurde es gekocht und etwas Buttermilch hinzugefügt, danach konnte man einen braunen Schaum abschöpfen und übrig blieb glasklares Wasser.

Frauen hatten es sehr schwer

Der abgegrabene Torf wurde zum Essenkochen und zum Heizen benutzt, die restliche Menge wurde verkauft. Hatte jemand im Frühjahr reichlich Torf gestochen, so war er noch lange nicht reich, hatte er im Winter zu wenig Brenntorf, dann war er arm dran. Am schwierigsten hatten es die Frauen: Sie führten den Haushalt, versorgten die Kinder und halfen beim Torf.

Beim Torfstechen musste die ganze Familie helfen, wie dieses Foto aus Wiesmoor zeigt. Foto: Saathoff/Archiv
Beim Torfstechen musste die ganze Familie helfen, wie dieses Foto aus Wiesmoor zeigt. Foto: Saathoff/Archiv

Zu den Geburten kamen noch keine Hebammen und auf Reinlichkeit wurde nicht sonderlich geachtet. Somit war damals die Kindersterblichkeit recht groß und oft hatte die junge Mutter den Tod ihres letzten Säuglings noch nicht ganz überwunden, so trug sie schon wieder ein neues Leben unter ihrem Herzen. Bei der einseitigen und vitaminarmen Ernährung wurden sie oft nicht alt und als Todesursache wurde angegeben: „An Auszehrung gestorben“.

Kanal brachte zusätzliches Einkommen

Die Lebensverhältnisse besserten sich erst, als Ende des 19. Jahrhunderts der Kunstdünger erfunden wurde und der Buchweizen nicht mehr in der Moorasche wachsen musste. Hafer konnte ausgesät werden und Kartoffeln fanden auf dem ursprünglichen sauren und mageren Moorboden Nahrung. Als ab 1891 der Verbindungskanal zwischen der Jümme und dem Ems-Jade-Kanal (später Nordgeorgsfehnkanal genannt) von Remels an weiter in Richtung Marcardsmoor gegraben wurde, fanden viele Moorkolonisten ein zusätzliches Einkommen beim Kanalbau.

Im Jahr 1906 hatte sich der aus Carolinensiel stammende Otto Haak als Bauingenieur für die Schleusenneubauten in Neudorf mit einer Gehaltsforderung von 220 Mark beworben. Mit dem Fahrrad fuhr er von Hesel zu seiner neuen Arbeitsstelle. Zu beiden Seiten des Weges standen hin und wieder kleine mit Stroh eingedeckte Bauernhäuser. Auf der ganzen Strecke kam ihm kein Mensch entgegen. In Neudorf war in nördlicher Richtung das Moor so weit wie das Auge reichte, kein Baum und kein Strauch, nur die braune Heide.

Torfabbau schritt weiter voran

Die Schleuse Neudorf I (aus Richtung Remels die Erste) wurde 1906 und die Schleuse Neudorf II im Jahr 1916 fertiggestellt. Gearbeitet wurde damals 58 Stunden in der Woche, sonnabends bis 16 Uhr. Beim Kanalbau wurden im ersten Weltkrieg auch Strafgefangene und Kriegsgefangene aus Russland, Belgien und Frankreich eingesetzt. Untergebracht waren sie in Baracken am Seitenkanal, der zur Entwässerung des Moores gegraben war.

Früher gab es nur unbefestigte Wege, heute wird auf der Straße zwischen Neudorf und Wiesmoor so schnell gefahren, dass ein Blitzer installiert wurde. Foto: Ortgies
Früher gab es nur unbefestigte Wege, heute wird auf der Straße zwischen Neudorf und Wiesmoor so schnell gefahren, dass ein Blitzer installiert wurde. Foto: Ortgies

Wie in anderen Gegenden Ostfrieslands wollte man das Moor für die Torfgewinnung nutzen, um anschließend das verbliebene Leegmoor zu kultivieren. Zuerst wurden breite Entwässerungsgräben an beiden Seiten des Verbindungskanals angelegt. Zugute kam den Neudorfern, dass in Stickhausen eigens für das Abtorfen des Neudorfer Moores eine Tochterfirma der dortigen Koksfabrik Bamme & Tammena gegründet wurde.

Für dieses neue Werk, Neudorf genannt, waren ungefähr 50 Arbeiter an großen Dampftorfpressen mit der Abtorfung beschäftigt. Die Abfuhr nach Stickhausen erfolgte mit drei großen Pünten, die eine Ladefähigkeit von 45 Tonnen hatten. Der erhoffte wirtschaftliche Erfolg stellte sich über die Jahre nicht ein und so wurde die Torfverarbeitung zu Koks im Jahre 1913 eingestellt.

Letzte Moorflächen blieben erhalten

Etliche Neudorfer fanden auch bei der Staatlichen Moorverwaltung, den Nordwestdeutschen Kraftwerken AG in Wiesmoor, eine Anstellung. Als 1965 auch dieses Kraftwerk den Torfabbau zur Stromerzeugung einstellte, war das Neudorfer Moor noch nicht gänzlich abgetorft. Die verbliebene Fläche wurde 1983 als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Von dem errichteten Aussichtsturm am Bentstreeker Weg hat man einen schönen Ausblick auf die weiten zur Renaturierung ausgewiesenen Flächen.

Der Torf aus Neudorf diente im Torfkraftwerk in Wiesmoor zur Stromerzeugung. Foto: Siemens/Archiv
Der Torf aus Neudorf diente im Torfkraftwerk in Wiesmoor zur Stromerzeugung. Foto: Siemens/Archiv

Der erste Schulunterricht fand mit Privatlehrern in angemieteten Räumen statt. Im Jahr 1851 wurde ein kleines Schulgebäude mit einem Wohnraum für den Lehrer errichtet. Es stand dort, wo der heutige Friedhof ist. Zum Beheizen der Klasse lieferten die Eltern für jedes schulpflichtige Kind jährlich 150 Stücke Brenntorf. Die spätere Schule wurde 1940 an der Neudorfer Str./Ecke Nordgeorgsfehnkanal errichtet. Im zweiten Weltkrieg musste sie 1941 geschlossen werden.

Schule wurde 1964 geschlossen

Die Kinder wurden auf die umliegenden Schulen in Poghausen, Großoldendorf und Ockenhausen verteilt. Im Mai 1945, als die Kriegsfront auch Neudorf erreichte, wurde das Schulgebäude von polnischen Soldaten zerstört und brannte bis auf die Grundmauern ab. Wieder aufgebaut wurde sie 1949. Von 1964 an kamen die Kinder ab der 5. Klasse nach Ockenhausen, die Klassen 1 bis 4 wurden dort noch bis 1971 unterrichtet. Ihre letzte Lehrerin war Insa Heikaus.

Wo früher die Kinder aus Neudorf unterrichtet wurden, hat heute die Feuerwehr ihr Domizil. Foto: Ortgies
Wo früher die Kinder aus Neudorf unterrichtet wurden, hat heute die Feuerwehr ihr Domizil. Foto: Ortgies

Feste Straßen gab es früher nicht, es führten nur Wege durch Neudorf. Diese waren von Oktober bis April grundlos, so dass Bauern nicht zu ihren Feldern konnten und die Pferdefuhrwerke versanken. Zeitweise brachte man keine Milch zur Molkerei und auch die Fußgänger konnten die schlammigen Wege nicht passieren. Durch unermüdliche Initiative des Bürgermeisters Jann Goesmann und durch enorme Eigenleistungen der Bewohner wurde 1950 die erste Straße von Großoldendorf nach Oltmannsfehn verlegt und anschließend eine Betonstraße von Remels nach Wiesmoor gebaut.

Eine Feuerwehr konnte in Neudorf 1935 gegründet werden. Ihr erstes Löschfahrzeug war ein ehemaliger Butterwagen, der in der Molkerei Ihrhove ausgedient hatte. Ein Feuerwehrhaus wurde 1955 in der Nähe des Friedhofs gebaut. Seit der Gebiets- und Gemeindereform von 1972 und seit dem die Schulkinder in Remels unterrichtet werden, hat die Feuerwehr ihre Räumlichkeiten in der ehemaligen Schule. Langjähriger Ortsbrandmeister und späterer Ehrenbrandmeister war der kürzlich verstorbene Manfred Pülscher.

Lokale und Geschäfte gibt es nicht mehr

Über mehrere Jahrzehnte lang war das Lokal „Riesbarger Jägerstübchen“, das von Ewald Schmidt und später von seinem Sohn Renko betrieben wurde, ein Treffpunkt für Jung und Alt. So wie die Jägerstübchen, sind auch die beiden Lebensmittelgeschäfte von Heinrich Wilken und Georg Broers seit langem nicht mehr. Auch der Blumenladen von Anita Pülscher wurde aufgegeben.

In Eigenleistung ist dieser Pavillon des Dorfgemeinschaftsvereins entstanden. Foto: Ortgies
In Eigenleistung ist dieser Pavillon des Dorfgemeinschaftsvereins entstanden. Foto: Ortgies

Auf Anregung mehrerer Dorfbewohner wurde 1998 ein Ortsbürgerverein gegründet. Jans Roos und die über zwei Jahrzehnte lang als Ortsvorsteherin amtierende Grete Broers organisierten maßgeblich den Bau des Dorfgemeinschaftshauses. Doch nur mit Hilfe vieler freiwilliger Einwohner, auch aus den umliegenden Orten von Großoldendorf und Poghausen, konnte überwiegend in Eigenleistung das Haus am 22. Juni 2006 seiner Bestimmung übergeben werden. Mit einem Rückblick auf die zurückliegende Zeit feiern die Neudorfer mit ihren Gästen das 200-jährige Ortsbestehen am Samstag, 26. August.