Sicherheit Sind Fahrradhelme eher Gefahr als Schutz? Ein Faktencheck

Ute Nobel
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Von Ute Nobel
| 16.06.2023 06:58 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
Im Straßenverkehr kann es schnell zu Unfällen kommen. Dass ein Helm Radfahrer dabei schützt, glauben nicht alle. Foto: Jan Woitas/dpa
Im Straßenverkehr kann es schnell zu Unfällen kommen. Dass ein Helm Radfahrer dabei schützt, glauben nicht alle. Foto: Jan Woitas/dpa
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Ein Helmgegner aus Emden vertraut den Kopfbedeckungen nicht. Da ist er nicht der Einzige, im Internet kursieren mehrere Thesen, die gegen einen Helm sprechen. Wir machen einen Faktencheck.

Ostfriesland - Die Bilder kennt vermutlich jeder: Eine Melone wird in einen Helm geschnallt und von einer Leiter auf den Boden geworfen. Dieser Test soll zeigen, wie sehr ein Fahrradhelm den menschlichen Kopf schützt. Ob Verkehrswacht, Fahrradclubs oder die Polizei: Immer wieder wird darauf hingewiesen, wie wichtig das Tragen eines Fahrradhelms sei. Aber ist das wirklich wahr? Bisher haben wir uns diese Frage noch nie gestellt. Doch dann erreichte der Anruf eines erbosten Lesers aus Emden die Redaktion. Der Tenor des Gesprächs: Fahrradhelme seien Gift. Ein Helm helfe nicht im Geringsten, ganz im Gegenteil, er sei eine Gefahr für den Träger. Derselbe Anrufer hat einen Leserbrief an die Redaktion geschrieben, in dem er unter anderem bemängelt, dass im Lokaljournalismus immer nur über die Pro-Helm-Seite berichtet werde. Das wollen wir nicht auf uns sitzen lassen. Wir beschäftigen uns heute mit den gängigen Thesen von Helmgegnern, die im Internet kursieren. Ein Faktencheck.

Erste These: Ein Helm schütze nicht vor schweren Verletzungen.

Der Verfasser des Leserbriefs zitiert dazu die Ortsgruppe des ADFC Köln. Tatsächlich ist dort auf der Homepage Folgendes zu finden: „Wir haben zum Helm eine neutrale Position. Ein Fahrradhelm kann sicherlich in bestimmten Fällen einigen Verletzungen, Schürfwunden oder Prellungen vorbeugen, aber ist nicht wirklich dafür ausgelegt, beispielsweise bei einem Autounfall wirksam zu sein.“

Das sagt ein Neurochirurg: „Natürlich hilft ein Helm vor schweren Verletzungen. Ohne Helm bekommt der Schädelknochen die volle Wucht des Aufpralls an einer Stelle ab.“ Dr. Shadi Salem ist leitender Arzt der Neurochirurgie im Ludmillenstift in Meppen. Mit einem Helm werde der sogenannte Trauma-Fokus strahlenartig auf den Kopf verteilt – und könne damit abgedämpft werden, sagt er. „Voraussetzung ist, dass der Helm richtig auf dem Kopf sitzt.“

Das sagen ostfriesische Fahrradclubs: Harm Meinders ist der 1. Vorsitzende der ADFC-Ortgruppe im Rheiderland. Er habe selbst miterlebt, welchen Schutz ein Helm bieten könne. Bei einer Wochenendtour vor zwei Jahren habe eine Radlerin einen Unfall gehabt. „Die Frau ist gestürzt, hatte aber zum Glück einen Helm auf. Der Radfahrerin ist nichts passiert, aber der Helm war an drei Stellen gebrochen“, erzählt Meinders. Vorher hätten die meisten Radfahrer in der Ortsgruppe keinen Helm getragen. „Nach dem Sturz sind gleich acht Leute aus der Gruppe am darauffolgenden Montag los und haben sich einen Helm gekauft. Seitdem fahren 90 Prozent von uns mit Helm.“

Das ergibt die Recherche im Internet: Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass ein Helm vor schweren Verletzungen schützen kann. Das Ergebnis einer Studie der HFC Human-Factors-Consult GmbH von 2017, die im Auftrag der Verkehrsministerien Baden-Württemberg und Thüringen erstellt wurde, zeigt beispielsweise, dass durch das Tragen von Fahrradhelmen zwischen 20 Prozent der Kopfverletzungen bei Leichtverletzten und bis zu über 80 Prozent der Kopfverletzungen bei besonders schwer Verletzten vermieden werden.

Zweite These: Radfahrer führen riskanter, wenn sie einen Helm tragen.

Gegen den Fahrradhelm spricht die sogenannte Risikokompensationshypothese. Die besagt, dass ein erhöhtes Sicherheitsgefühl durch das Tragen eines Helmes dazu führe, dass Radfahrer mit Helm riskanter auf den Straßen unterwegs seien.

Das sagt die Polizei: „Wir führen keine Erhebungen darüber“, sagt Svenia Temmen, Pressesprecherin der Polizeiinspektion Leer. „Aber ich denke, das Tragen eines Helmes ist eher ein Ausdruck von mehr Sicherheitsbewusstsein.“ Wer einen Helm trage, der sei sich eher über die Gefahren und mögliche Verletzungen im Straßenverkehr bewusst, so Temmen. Bei Unfällen mit Radfahrern und Regelverstößen im Straßenverkehr werde festgehalten, ob ein Helm getragen wurde. „Da kann ich kein Ungleichgewicht feststellen zwischen Radfahrern mit und ohne Helm. Ich kann also nicht sagen, dass sich Radfahrer mit Helm anders verhalten“, sagt Temmen.

Das sagen ostfriesische Fahrradclubs: „Ich denke, dass eher Autofahrer die Geschwindigkeit von Fahrrädern, vor allem E-Bikes unterschätzen. Egal, ob jemand mit oder ohne Helm darauf sitzt. Deshalb ist ein Helm immer besser“, sagt Gundela Fink-Trudung, 1. Vorsitzende der ADFC-Ortsgruppe Leer. Sie sei selbst Helm-Trägerin und denke nicht, dass sie deshalb riskanter fahre. Ganz im Gegenteil. „Es ist eher so, dass man im Alter unkontrollierter wird und auch unkontrollierter fällt.“

Das ergibt die Recherche im Internet: In einer Vergleichsuntersuchung, die 2018 von Wissenschaftlern aus Schweden, Finnland und Australien veröffentlicht wurde, sind 23 Studien zum Risikoverhalten in Verbindung mit dem Tragen eines Fahrradhelms ausgewertet worden. Dabei zeigte sich, dass bei 18 Studien die Risikokompensationshypothese nicht bestätigt wurde. Drei Studien lieferten gemischte Ergebnisse. Nur zwei Studien brachten Ergebnisse für die Risikokompensationshypothese.

Dritte These: Ein Helm übertrage die Verantwortung auf den Radfahrer.

Mit Helmwerbung werde die Verantwortung für Sicherheit im Straßenverkehr auf die Radfahrer geschoben, anstatt die Ursachen, nämlich eine fehlende Infrastruktur, zu bekämpfen.

Das sagt der Gründer einer Fahrradbewegung: Peter Hartema ist Mitgründer der Fahrradbewegung Critical Mass in Emden. Die Gruppe setzt sich dafür ein, dass Fahrradfahrer im Verkehr mehr gesehen und als vollwertige Verkehrsteilnehmer akzeptiert werden. Dazu veranstaltet die Gruppe regelmäßig Demonstrationen auf dem Rad. „Wenn es nach mir ginge, dürften Leute ohne Helm gar nicht auf die Straße“, sagt Hartema. „Es ist sowieso schon gefährlich auf den Straßen für uns Fahrradfahrer, darauf wollen wir ja aufmerksam machen. Aber es ist natürlich noch gefährlicher, wenn wir dann ohne Helm unterwegs sind.“

Das sagt ein Neurochirurg: „Zehn Prozent der Unfälle, bei denen schwere Kopfverletzungen entstehen, sind Fahrradunfälle. Das sind in der Medizin schon viele“, sagt Dr. Shadi Salem, Neurochirurg aus Meppen. Wiederum viele Fälle davon seien aber Fahrradstürze ersten Grades, das bedeutet, diese Unfälle sind ohne Fremdeinwirkung geschehen. „Und da ist jeder für seinen eigenen Schutz verantwortlich.“

Das ergibt die Recherche im Internet: Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2021 zeigen: Die häufigsten Unfallbeteiligten bei Fahrradunfällen sind Autofahrer. Von den statistisch erfassten Fahrradunfällen mit Personenschaden waren 28,3 Prozent Unfälle ohne Fremdeinwirkung. In 69 Prozent der Zusammenstöße waren mindestens zwei Verkehrsteilnehmer verwickelt. Mit 71,9 Prozent waren Autos die häufigsten Unfallgegner.

Fazit der Redaktion:

Zwischen allen Menschen, mit denen wir gesprochen haben, haben wir keinen Helmgegner gefunden. Im Internet gibt es dagegen sogar Webseiten, die sich gegen Fahrradhelme aussprechen und die vermeintlichen Gefahren aufzeigen. Zu den Thesen der Helmgegner lassen sich im Internet zahlreiche Studien finden, die die Thesen widerlegen. Es gibt aber auch einige wenige, die sie bestätigen. Die örtlichen Fahrradclubs in Ostfriesland sind für den Helm. Jedoch sind alle Vorsitzenden, mit denen diese Zeitung gesprochen hat, gegen eine Helmpflicht. Die Befürchtung des ADFC: Mit einer Helmpflicht würden weniger Menschen aufs Rad steigen. Der Neurochirurg zeigt eindeutig die Vorteile eines Fahrradhelms auf, die Polizei ist grundsätzlich für das Tragen eines Helms, macht jedoch keine Erhebungen über beispielsweise die Risikobereitschaft von Helmträgern und Helmgegnern.

Konsens herrscht darüber, dass in erster Linie natürlich Unfälle vermieden werden sollten. Und das geht am besten mit einer sicheren Infrastruktur, Tempolimits oder auch richtigem Verhalten der Verkehrsteilnehmer. Da es in Deutschland keine Helmpflicht gibt, ist es jedem selbst überlassen, einen zu tragen – oder eben nicht.

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